"Willst Du gesiezt werden, oder sollen wir Sie duzen?"

von Anne Brackhahn

Du willst es doch auch?!

„Mo-hoin! Kann ich was für euch tun?“ Meine fröhlich-sympathische Ausstrahlung scheint dem gutsituierten Best-Ager-Paar ins Gesicht wie warmer Sonnenschein. „Wir brauchen ein bisschen Beratung“ sagt sie schüchtern. Er ergänzt, dass es um eine neue Matratze geht. Kein Problem, dynamisch starte ich Richtung Probebetten, im Plauderton die einleitenden Fragen des Verkaufsgesprächs stellend. In meinen verwaschenen Jeans, dem bequem geschnittenen T-Shirt und den Turnschuhen sehe ich aus wie die nette Studentin von nebenan. „Anne B.“ steht auf meinem Namensschild – mein Nachname wird zu keinem Zeitpunkt genannt. Mich zu siezen fällt meiner Kundschaft spürbar immer schwerer. Nach kurzer Zeit kenne ich die Bandscheibe, die bei ihr Schmerzen verursacht, und weiß, wo die beiden ihre letzte Matratze gekauft haben. Ich bin darüber informiert, dass er in Rückenlage schnarcht und sie Satinbettwäsche liebt. Das Kundenpärchen hat sich vor mir auf den Matratzen von rechts nach links gedreht, ich habe ihre Wirbelsäulen betrachtet und mit ihnen über ihre individuelle Gewichtsverteilung gesprochen. Die Stimmung ist blendend, man versteht sich, wir lachen gemeinsam, der Ton ist herzlich und sehr persönlich – wie unter alten Freunden. Das Du ist ganz selbstverständlich.

 

Immer nur Du, auf allen Kanälen?

Schon vor ihrem Besuch im Einrichtungshaus hatte sich das Paar im Internet mit dem Angebot dieses Unternehmens beschäftigt. Auf der Homepage lesen sie: „Hier findest du Tipps, die dir dabei helfen werden, deinen Schlaf besser zu verstehen.“ Als langjährige Inhaber einer Kundenkarte sind sie es gewohnt, in der Schriftkommunikation geduzt zu werden: Die monatlichen E-Mail Newsletter und Postwurfsendungen beginnen jedes Mal mit Formulierungen wie „Das darfst du nicht verpassen!“ und „Wir haben Neuigkeiten für dich!“  Aber auch Kund:innen, die nicht zur selbstdeklarierten „größten Familie der Welt“ gehören möchten, werden per Du angesprochen: auf den Schildern und Plakaten im Einrichtungshaus, in den Radiospots, der TV-Werbung und natürlich im Katalog. Gesiezt wird höchstens in der mündlichen Ansprache und im situativen Ermessen der beteiligten Mitarbeiter:innen, wenn jemand das Sie offensichtlich erwartet oder einfordert. Sogar hinter den Kulissen: Einrichtungshauschef und Kundenwagenschieber duzen sich und wünschen sich gegenseitig ein schönes Wochenende, wenn sie sich im Flur begegnen. Das Du ist omnipräsent.

 

Mit wem spreche ich denn, bitte?

Das konsequente Duzen als Aspekt der Corporate Language ist in diesem Beispiel ein elementarer Bestandteil der Markenpersönlichkeit. Doch in vielen Unternehmen ist die Entscheidung für das Du und gegen das Sie (oder umgekehrt) nicht so absolut. Volkswagen etwa siezt seine Kund:innen auf der Homepage und duzt bei Facebook und Instagram. Auf YouTube sind alle Beiträge in Englisch gehalten – einer Sprache, die nicht zwischen Du und Sie unterscheidet. Die Form der Anrede wird hier nach den Spielregeln des genutzten Kommunikationskanals gewählt. Mindestens genauso entscheidend wie die Vorgaben des Mediums ist die Zielgruppe in ihren Erwartungen, in ihrem Status-Verständnis, ihrem Alter und ihrem Bildungsgrad. Die Faustregel lautet: jung, hip und trendy wird geduzt, und zwar, seit 2003 die Achtundsechziger bei IKEA damit angefangen haben. Durch den Einzug von Social Media in den Alltag der Konsument:innen ist der Ton der Ansprache an die Kundschaft nochmals merklich in Richtung Du gerückt.

 

Wie hätten Sie‘s denn gern?

Entsprechend wird oft und gern geduzt. Doch wann sollten Sie lieber zum Sie greifen? Eine Studie aus dem Jahr 2019 versucht zu definieren, wer wann wie angesprochen werden möchte. Untersucht wurden die Vorlieben von 4533 Deutschen zwischen 16 und 54 Jahren im stationären Handel, in Social-Media-Kanälen, auf Business-Plattformen und in der Kommunikation auf Unternehmenswebsites. Aus den Ergebnissen lassen sich Tendenzen ableiten, z.B. dass bei Facebook und Instagram das Du von über 80% der Befragten erwartet wird, LinkedIn Nutzer:innen jedoch lieber gesiezt werden. Face-to-face mit dem Verkaufspersonal bevorzugen ältere Kund:innen das förmlichere Sie, online sind alle Altersgruppen überwiegend mit dem Du einverstanden. Konkrete Präferenzen, anhand derer sich Marketingentscheidungen bezüglich der angemessenen Ansprache orientieren könnten, sind jedoch nicht offensichtlich.

 

Und was können wir da tun?

Nach den Rahmenbedingungen des Mediums und den Erwartungen der Zielgruppe spielt der Anlass bzw. das Ziel der Ansprache eine entscheidende Rolle für die Wahl der Anrede. Soll eine emotionsbasierte Verbindung mit dem Auto, das in den Sonnenuntergang fährt, geknüpft werden? Oder wird auf der Sachebene eine Information über Anlagemöglichkeiten eines Finanzdienstleistenden vermittelt? Auch die Branche, das Unternehmen und letztendlich der Gegenstand der Kommunikation, in vielen Fällen ist dies das beworbene Produkt, nehmen Einfluss auf den guten Ton. „Nimm zwei!“ sagt die Werbung! Und: „Auf diese Steine können Sie bauen.“ Fällt die Entscheidung zwischen Du und Sie allzu schwer, gibt es immer noch die Möglichkeit, die direkte Ansprache gänzlich zu vermeiden und eine allgemeingültige Abstraktionsform zu wählen, wie „… macht Kinder froh und Erwachsene ebenso.“ Oder es kommen „Tante Tilly“ und „Herr Kaiser“ zum Einsatz, wodurch die Zielgruppe gar nicht angesprochen werden muss. Sehr zeitgemäß ist auch die Flucht in eine andere Sprache: „we love to entertain you“.

 

Die KERN-Frage: #gerne per du?

Bei KERN die Kreativagentur arbeiten wir häufig B2B. Auch hier ist die Frage nach der richtigen Ansprache relevant, auch hier wird situativ, zielgruppenorientiert und nach unserem Gefühl für Angemessenheit entschieden. Ein gutes Beispiel ist das Karrieremarketing, ein Bereich der stetig an Relevanz für Unternehmen in den verschiedensten Branchen gewinnt. Auch wenn die Unternehmenskommunikation insgesamt respektvoll und förmlich ist, kann und darf im Recruiting neuer Bewerber:innen durch das Duzen Nähe erzeugt werden. Schließlich geht es auch im Karrieremarketing darum, für die Zielgruppe attraktiv zu sein und das Produkt – in diesem Fall eine freie Stelle – an den Mann bzw. an die Frau zu bringen!

 

Wir Kommunikationsprofis haben das im Gefühl!

Mit dem Du macht man also heutzutage nicht unbedingt etwas falsch. Doch was wäre richtig? Meine Antwort auf diese Frage lautet: mal so, mal so. Der situativ angepasste Wechsel zwischen Du und Sie (bzw. die Vermeidung der direkten Ansprache) ist nicht nur zeitgemäß, er berücksichtigt die Voraussetzungen und den Auftrag der jeweiligen Kommunikation oft gezielter, als es eine unternehmerische Grundsatzentscheidung für ein einheitliches Sprachkonzept könnte. Das Ziel jeder Ansprache ist ja stets die Punktlandung auf dem angemessenen Niveau der Höflichkeit, vergleichbar etwa mit der Wahl des Outfits für ein Bewerbungsgespräch: Das lockere Du und die Jeans der Softwareentwickler:innen passen zum Internet-Start-up, in der Bank trägt man Business-Chic und siezt die Kunden. Je größer die Bandbreite der zur Verfügung stehenden Medien, desto vielfältiger die Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren auf die Form der Ansprache. Das Du und das Sie haben hier beide ihre Daseinsberechtigung. Der Schlüssel zum Erfolg liegt meiner Meinung nach im Fingerspitzengefühl. Letzten Endes ist unter Gewichtung und Berücksichtigung aller genannten Aspekte die richtige Anredeform zu wählen und erfolgreich einzusetzen, eine Kunst. Kunst kommt bekanntlich von Können. Im Zweifel ist es also wie immer sinnvoll, die Expert:innen zu Rate zu ziehen. In diesem Sinne: let’s talk about it!

13. Oktober 2021 | Anne Brackhahn
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